Biografische Essenz

Mein Vater berichtete von einem Standardtraum. Er erzählte: Ich war acht Jahre alt. Ich stand auf dem großen Fabrikspeicher, alle Fässer für die Essigproduktion wurden abgebaut und weggeschafft. Es war ein heftiges Treiben, viele Arbeiter liefen kreuz und quer. Dann war der Dachspeicher still. Eine große dunkle Kugel rollte lautlos an mir vorbei in einen unendlich  leeren Raum; sie rollte immer weiter, aber sie verschwand nie.

Meine Familie besitzt einige Fotoalben, in denen ich schon als Kind schmökerte. In den 1930er-Jahren wurde viel fotografiert. Die Verwandten tauschten Geschichten aus, in denen stets die  Größe der verblichenen Zeit durchschien: Das große Haus, der Wintergarten und die  Gartenlaube, die Ausflüge an Rhein und Mosel und der Mercedes auf dem Hof – das galt als vorzeigbare Möblierung des Zeitgeists eines biedermeierlichen Bürgertums. Man verharrte mit einem Schatz wehmütiger Rückblicke unter dem Herzen.

Ich war Zaungast und Berichterstatter. Ich erinnere mich, dass wir daheim einen klobigen Diaprojektor hatten, einen Apparat mit einem langen Linsenrohr. Da lag ich als Achtjähriger auf dem Fußboden vor dem Fernsehgerät, setzte den Projektor auf ein Sofakissen und tat, als filmte ich die Geschehnisse der Welt. Das Vorbild war Peter von Zahn, der Reporter der Windrose.

Heute vermute ich, dass mich nicht vorrangig seine Welterkundungen fesselten. Es war vielmehr die Verheißung, ein ebenso wendiger Hervorbringer vollmundig treffender Wortschöpfungen zu werden! Der Blick durch die imaginierte Kamera war ein Freibrief, die Welt ad hoc zu erobern  und ad libitum in neuer Gestalt vorzuzeigen. Das Kinderherz verlangte nach Welteroberung, danach, einen ehemals stillgelegten Echoraum mit semantischen Windrosen zu erfüllen. Ich machte mir eine praktikable Haltung zu eigen: Mit schlafwandlerischer Sicherheit durchschritt ich die Alltagsbilder meiner Kindheit wie in einem Spiegellabyrinth. Es kam mir vor, als tastete ich mich durch ein eingespieltes Legespiel des Memorierens: Stets deckte ich passende Bilder auf. Drehte ich am Kaleidoskop vertrauter Heimeligkeit, entstand flugs ein neues Diorama des Familienromans. Da wirkte ein Magnetismus der Metaphern, und ich jagte den Bedeutungstrophäen hinterher.

Die aus Sprachlust und Fabulierkunst zurechtgeschneiderten Denkbilder glichen einem Innehalten der Züge auf dem Rangierbahnhof kindlicher Stupsnasigkeit. Wie im Gummitwist ging es bei den Fotografien um den Stopptanz: Wenn einer klatschte, standen alle Bilder still. Wir lebten in angehaltenen Filmbildern einer stagnierenden Traumverfassung.

Im Sommer 1970 stehe ich 17-jährig in Edward Kienholz’ Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle. Ein Wahnsinn, diese Bildgewalt! Alles, was in mir einen Ausdruck verlangt, rebelliert und will sich herausbahnen. Dahin musst du!

Am 5. Februar 1976 Frühstück mit Ed Kienholz in Berlin. Im Herbst 1976 meine Ausstellung „Der Mensch ist verletzlich“, Berlin, zehn Fotografien auf schwarzer Pappe mit gestempelten Wörtern, Ed Kienholz kauft ein Konvolut meiner Holzkästen. 1977, Paris, Andy Warhol treffen, mit Jean Tinguely an seiner gigantischen Pinball- Maschine spielen, es bricht ein Teil ab, wir schweißen das Ding, im Centre Pompidou. 1978 Stephan von Huene, ein Ideenfutter, dieser Mensch. Dieter Roth, Dorothy Iannone in Ossi Wieners Exil, auf Bierdeckeln zitiert Dieter endlos Konstrukte. Mark Prent ist ein Höllenhund! Maria Lassnig, 1978 helfe ich ihr, Leinwände auf Rahmen zu tackern, schief, eckenweise zehn Zentimeter von der Wand entfernt. Maria lächelt. 1978 treffe ich Heinz Hajek-Halke in Berlin und Umbo – Otto Umbehr in Hannover, 1979 Death, Destruction and Detroit, Schaubühne Hallesches Ufer, Robert Wilson: Du richtest den Verfolger auf Otto Sander. Jerry Zeniuk, New York, neue Impulse. Orgien-Mysterien-Theater, Hermann Nitsch, New York, Oberpfeifenkonzert. Mary Harding upstate New York treffen. 1979 und 1980 mit Richard Jackson in Berlin und Los Angeles, große Arbeiten. Schloss Wiepersdorf bausaniert. Als Handwerker unterwegs.

Danach Studium der Psychologie bei Wilhelm Salber in Köln.

Das Blatt wendet sich, als ich 1984 im Rahmen eines Bauprojekts im Süden Nicaraguas Susanne Stark, meine spätere Ehefrau, kennenlerne. Auf der Bootsfahrt zur Insel Solentiname zeichne ich für sie den Grundriss der leerstehenden Fabrik auf. Wir ahnen nicht, was für ein Vorhaben wir anzetteln!

1995 kommt unser Sohn Toni zur Welt. Wir brauchen eine Kindertagesstätte und gründen sie in der alten Zündholzfabrik. 1999 wird unsere Tochter Franzi geboren. 2000, unsere Freundin  Martina Vikanis braucht ein Theater: Und wir heben das matchboxtheater aus der Taufe. In die Halle 1 vergrößert sich der Kindergarten. 2003 bringt Sanne unsere zweite Tochter, Steffi, zur Welt. Wir haben die alten Gemäuer wachgeküsst. Wir füllen den einstmals leergefegten Raum mit Familie, Bauvorhaben und Kunstprojekten. Und jetzt satteln wir noch ein Bürgerzentrum für die verbliebenen Hallen drauf.

Irgendwann wollte ich dem Semantischen, das ich ständig als den glossierenden Antrieb meiner Arbeit erfuhr, einen Rahmen verleihen. Und es sollte seriell werden wie Seitenbilder eines Buchs. Also bestellte ich etliche Pappkartons: In die Kartonböden legte ich passgenaue Sperrholzplatten.

Dann sattelte ich die Geistessachen drauf: Ich hielt etliche Familienfotografien in den Händen und probte ihren jeweiligen Auftritt auf dem Sperrholz. Dann lag da eine Fotografie, einsam und ausgesetzt. Ich verspürte eine Freiheit der willkürlichen Festlegung. Urplötzlich war vieles  möglich. Mit den Bildinschriften konnte ich den Fotografien eine neue Drehung geben. Das Gesamt aus Pappschachtel, Sperrholz, Fotografie und Stempelworten ergab einen eigenen Sinn.

In den Holzkästen habe ich aufgetischt. Fotoshooting mit Axel Joerss und Darstellern. Axel ist Fotograf und Fotokünstler, und er ist ein genialer Mitdenker. Mit Axel gewannen meine lebenden Bilder an Fahrt. Der Mann muss es wissen; er ist leidenschaftlicher Segler.  Porzellanfotografien, welch ein Glanz! Feinste Tischlerarbeit für die Holzkästen und die Lettern als Bronzeguss! Hier adelt eine Kunstsinnigkeit das Profane.

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